Prof. Dr. med. Bernd Wilken

MeCP2 assoziierte Erkrankungen bei Jungen (male Rett)

MeCP2 assoziierte Erkrankungen bei Jungen (male Rett)

© Bernd Wilken, Neuropädiatrie Kassel (für Rett Deutschland e.V. – Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom)

Einleitung:

Mit den MeCP2 assoziierten Erkrankungen bei Jungen sind 2 verschiedene Gruppen gemeint, die Gruppe der Jungen mit Deletionen und Mutationen (wie bei den Mädchen und Frauen), noch mal weiter in 4 Gruppen unterteilt und die Jungen mit Duplikationssyndromen. Bei den Mutationen im MeCP2 Gen sind etwa 92% der Betroffenen weiblich und 8% männlich. Beim Duplikationssyndrom sind etwa 9% der Betroffenen weiblich und die Mehrzahl, 91% männlich.

 

Mutationen oder Deletionen bei Jungen:

Seit der Erstbeschreibung von Mutationen im Methyl CpG bindenden Protein 2 (MeCP2) 1999 durch R. Amir aus der Arbeitsgruppe von H. Zoghbi wurden zahlreiche Deletionen und Mutationen in dem Gen beschrieben und die Variationen der klinischen Ausprägung immer vielfältiger. Die Expression und damit die zur Verfügung stehende Menge des Proteins MeCP2 korreliert sehr eng mit der Reifung von Nervenzellen und auch Aufrechterhaltung der Funktion, sowie Induktion der Vernetzung von Nervenzellen.

Aufgrund der Tatsache, dass historisch betrachtet die beschriebenen Patienten alle weiblich waren, wurde angenommen, dass ein Mangel an MeCP2 bei Jungen zu einem intrauterinen oder frühem Tod nach der Geburt führt.

Durch die Verfeinerung der genetischen Methoden mit NGS (next generation sequencing) bzw. Exom-Sequenzierung wurden aber im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte immer mehr Jungen identifiziert. Im Verhältnis zu Mädchen und Frauen sind Mutationen oder Deletionen im MeCP2 Gen bei Jungen relativ selten, 92% der Mutationen betreffen Mädchen mit klassischem Rett Syndrom.

Von verschiedenen Arbeitsgruppen wurde versucht die wenigen Jungen je nach klinischen Symptomen in Gruppen einzuteilen, das ist insbesondere für die Orientierung der betroffenen Eltern von Bedeutung.

Genetisch finden sich verschieden Mechanismen, neben der klassischen chromosomalen 46 XY Konstellation mit der Mutation Xq28 mit schwerem Verlauf, gibt es Mosaike, de – novo (also neu entstandene Mutationen) oder eine Mutation in der chromosomalen Klinefelter Konstellation 47 XXY mit klassischem Rett Syndrom.

Neul, J.L. et al. haben erst kürzlich (2019) eine Einteilung in vier Gruppen vorgelegt:

  1. Jungen mit klassischem Rett Syndrom die die Konsensus Kriterien der Klassifikation von 2010 erfüllen und eine Mutation oder Deletion im MeCP2 Gen haben.
  2. Jungen mit einer sog. neonatalen Enzephalopathie mit schweren Symptomen bereits ab Geburt.
  3. Progressive Enzephalopathie mit Verschlechterung der klinischen Situation in allen Bereichen der Entwicklung.
  4. Jungen mit Störungen der kognitiven Fähigkeiten ohne Verschlechterung, bzw. Regression.

Die klinischen Symptome sind in aller Regel schwerwiegender als bei Mädchen, dazu gehört, dass die neurologische Entwicklung stärker gestört ist, Atemregulationsstörungen und Bedrohung durch ein frühzeitiges versterben vorliegen.

Ein Rückschluss von der Mutation auf die klinische Ausprägung ist extrem schwierig aufgrund der sehr kleinen Zahl von betroffenen Jungen. Die Arbeitsgruppe von J.L. Neul postuliert, dass Mutationen an vorderen Positionen im Gen (vor der Position 271) einen höheren Schweregrad verursachen.

 

 Duplikationen im MeCP2 Gen bei Jungen (MDS):

Duplikationen entstehen entweder neu (de-novo) oder werden von den nicht betroffenen Müttern weitergegeben. Bisher sind etwa 600 Jungen weltweit beschrieben, aber die Dunkelziffer der bislang nicht diagnostizierten Jungen dürfte sehr viel höher liegen, auch hier werden mit NGS sicher zunehmend Jungen identifiziert. Bei Jungen mit MDS findet sich ebenfalls eine große Variation der Symptome und damit eine unterschiedliche Belastung der Eltern. Aber die Symptome sind unterschiedlich zum klassischen Rett Syndrom. Die Kinder haben z.B. sehr viel weniger Stereotypien. Im Vordergrund, und das ist für die therapeutischen Bemühungen sehr wichtig stehen eine manchmal therapieschwierige Epilepsie und vor allen Dingen Infekte der Atemwege mit Lungenentzündungen und Infektionen des Innenohres. Die immer wieder auftretenden Infekte führen oft zu Aufenthalten auf der Intensivstation und beeinflussen im hohen Maße die Lebensqualität und die Lebenserwartung. Daher haben Impfungen auch eine hohe therapeutische Bedeutung in der Prävention von Infekten.

 

Journal of Paediatrics and Child Health 55 (2019) 1315 – 1322

Die Tabelle zeigt bei insgesamt 20 Patienten die Häufigkeit von Lungenentzündungen (Pneumonie) mit 75% - mehr als 9 Episoden hatten aus der Gruppe immerhin 53% der Kinder.

Die immer wieder auftretenden Infektionen und die therapieschwierige Epilepsie triggern eine Regression bei diesen Kindern die nicht durch die Duplikation begründet ist.

Weitere Symptome der MDS können eine spastische Bewegungsstörung oder auch eine muskuläre Hypotonie, Sprachentwicklungsstörungen und Magen-Darm-Störungen sein.

Zu den Störungen des Magen-Darm-Systems gehören Fütterschwierigkeiten, Schluckstörungen, gastro-ösophagealer Reflux und Probleme mit dem Speichelfluss.

Da das MDS noch nicht so lange bekannt ist, wird zurzeit über eine Zunahme der Probleme mit zunehmendem Alter berichtet. Da die Probleme aber immer besser beschrieben werden, kann es sein, dass das ein sekundäres Problem ist und durch bessere Behandlungsstrategien nicht so auftritt.

 

Therapeutische Erwägungen und Ausblick:

Die aktuellen therapeutischen Möglichkeiten bei Jungen mit Mutationen oder Deletionen unterscheiden sich nicht von der Behandlung bei Mädchen mit klassischem Rett Syndrom. Ein Unterschied sind die problematischen Störungen des Atemantriebs. Hier sind z.B. Behandlungsversuche mit einem 5HT1A Rezeptor Agonisten (aus der Serotoningruppe) oder mit Ospolot als Carboanhydrasehemmer möglich, aber nicht ausreichend evaluiert.

Im Vordergrund der Behandlung steht die Prävention von Problemen wie Skoliose und die Therapie der Epilepsie wie auch der Verstopfung, Schlafstörung und Kommunikationsstörung. Das unterscheidet sich nicht.

Mit Trofinetide steht ein Medikament zur Zulassung, bei dem in einer guten und nachvollziehbaren Studie Verbesserungen bei den Kindern gesehen wurden, es gibt keinen Grund warum diese Behandlung nicht auch bei Jungen eingesetzt werden kann, aber auch dafür gibt es bisher keine Daten. Die Genersatztherapie könnte ebenfalls in Frage kommen, wenn sich zeigt, dass mit dieser Behandlungsmethode Verbesserungen des klinischen Bildes zu erreichen sind. Bisher ist aber auch bei Mädchen und Frauen mit klassischem Rett Syndrom noch keine Phase 1 Studie gestartet worden.

 

Bei Jungen mit MDS ist vor allen Dingen auf eine Prävention von Infekten zu achten und die Epilepsie muss energisch eingestellt werden. Auch die Ernährung muss beachtet werden. Die eingesetzten Heilmittel, wie Physiotherapie und Kommunikationsförderung unterscheiden sich nicht. Auch auf die Entwicklung einer Skoliose muss intensiv geachtet werden.

Als therapeutische Methode wurde im Tiermodel von der Gruppe von H. Zoghbi in Sci Transl Med  2021 eine Arbeit mit dem Titel: Antisense oligonucleotide therapy in a humanized mouse model of MECP2 duplication syndrome veröffentlicht. Mit dieser Methode gelang es die klinische Ausprägung bei den betroffenen Mäusen nahezu vollständig zu normalisieren.

An dieser Zukunftsmethode für die MDS Jungen wird intensiv weitergearbeitet, aber im Augenblick kann nicht gesagt werden ob das für die MDS Patienten erfolgreich sein wird.

 

Zusammenfassend:

Es gibt 2 Gruppen von betroffenen Jungen. Die Kenntnis der typischen Verläufe ist für die Beratung und Therapieplanung der betroffenen Eltern sehr wichtig. Aber, die klinische Ausprägung und die Verläufe sind variabel und die Behandlung muss immer sehr individuell sein.

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